Manchmal kommt ein bestimmtes Lied im Radio und ich muss an früher denken. An die unbeschwerte Zeit, in der wir so wild und frei und ohne viel an die Zukunft zu denken, lebten. Ausflüge mit dem Freundeskreis zum Badesee oder unbeschwert abhängen, ohne Termine, ohne Verpflichtungen. Diese Erinnerungen müssen Erinnerungen bleiben, da dieses ganz bestimmte Gefühl, dieses damalige Frühergefühl, einfach nicht mehr zu erzeugen ist. Heute fühlen sich die Ausflüge anders an, selbst wenn sie auch nur zum Badesee sind. Kein schlechtes anders, nur ist es eben nicht mehr so wie früher.
Elijas Lied
Loth hätte es gern wieder. Das Gefühl von damals, die Nähe zu ihren Schwestern Elija und Noa. Sie möchte gern wieder den Zusammenhalt spüren, für eine Zeit wieder eng zueinander rücken, die eigenen Leben für einen Moment ausblenden. Sie möchte mit ihren Schwestern durchs Moor wandern. Einen ganzen Tag lang ohne andere Einflüsse mit den Schwestern reden, Erinnerungen ausgraben und einfach sein, haltlos, frei und zusammen…
„Denkt an das: Noch-einmal-Schwestern-Sein. Daran, wie sie sich vorgestellt hat, dass Noa und Loth sich ganz nah sein könnten. Dass Noa Loth was erzählt und sie zusammen darüber lachen. Und dass Elija sich an sie kuschelt. Viel öfter, als sie das bei Noa macht. (Seite 106)“
Vielleicht ist es das Moor, das die Wanderluft schwer macht und ein drückendes Gefühl hervorruft. Vielleicht sind es die drei Schwestern selbst, die sich wie Magnete anziehen und dann so drehen, dass sie sich abstoßen. Alle drei Außenseiterinnen haben ihren festen Anker im Leben gefunden.
3 Schwestern
Elija lebt ihre Mutterrolle auf der Bühne aus und empfindet die wohl stärksten und intensivsten Gefühle. Gern schließt sie sich den Schwestern an, gleichzeitig ist sie auf deren Schutz angewiesen, sie ist langsamer und körperlich nicht so fit. Dafür ist sie weich und warm, atmet laut und sie folgt sonst einem festen Tagesablauf.
Noa ist auch anders, natürlich ist sie anders. Sie arbeitet in einer Kantine und sie hat ein Geheimnis. Akim kennt es, versucht es aber zu verdrängen. Er ist ein angesehener Mann aus der Chefetage und ihre Beziehung ist eine Art Aschenputtelgeschichte, die noch nicht fertig erzählt ist.
Loth hat den rebellischsten Charakter und die wohl extremsten Lebenswandlungen. Sie ist wie ein Flugschirm von einem Löwenzahn der sich im Wind dreht und sich am Ziel festkämpft. Sie ist weder künstlerisch noch sozial, sondern politisch aktiv.
1 Tag Frühergefühl
Ich mag das Cover sehr, auch wenn es recht harmlos aussieht. Der Roman von Amanda Lasker-Berlin hat es in sich und wirkt sehr tief und auch verstörend nach.
Vor allem konnte ich mich während des Lesens überhaupt nicht auf eine Schwester konzentrieren. Alle drei haben einen dermaßen ausgeprägten Charakter und vor allem völlig gegensätzliche Lebens- und Verhaltensweisen. Ich musste mehrmals tief ein und aus atmen. Am liebsten hätte ich gleich alles sofort erfahren. Immer schneller habe ich mich durch den Roman gelesen, der in seiner Art gewöhnlich ungewöhnlich ist. Bedeutet, dass die Autorin uns aus der Gegenwart in die Vergangenheit zurücktreiben lässt oder uns in Erinnerungen schubst.
Zwölf. Vierundvierzig
Die Kapitel beginnen oft mit dem Vornamen von einer der Schwestern. Ich mag diese Satzanfänge sehr, da ich sofort tief beim jeweiligen Charakter bin. Das Amanda Lasker-Berlin einen unvergesslichen Herzensroman geschrieben hat, möchte ich gleich noch mal betonen. Selten habe ich drei so intensive Frauen kennengelernt, über die ich immer wieder nachdenke.
Die zarten Kapitel sind mit der Tagesuhrzeit überschrieben, das wurde mir erst nach einem Gespräch klar. Ich kann die Gefühle, die mich beim Lesen ereilten, kaum richtig beschreiben. Der Roman zieht nicht direkt runter, natürlich beflügelt er auch nicht. Die Autorin schießt Wortpfeile ab die einfach treffen. Einige erschüttern, andere werden erst später spürbar. Bestimmte Szenen wühlen unfassbar auf, lassen die Augen groß werden und schockieren positiv, aber auch negativ.
Charakterschluchten
Eine außergewöhnliche Wanderung die es in sich hat, nicht nur der Aufstieg, erst recht der Abstieg. Ich möchte keine Minute mit den drei Schwestern missen, auch wenn wir fast im Moor stecken geblieben sind und die Schlucht zwischen den Charakteren nicht größer sein könnte. Keine leichten Worte, ein psychisches Meisterwerk über das Familienband von Schwestern. Schmerzhaft klar. Ein Romanhighlight das viele Leser*innen braucht und über das stundenlang geredet werden kann.
„Elijas Lied“ (FVA) geht unter die Haut, ein überwältigendes Debüt!