Immer noch wach ~ Fabian Neidhardt

Krebs ist und bleibt ein Arschloch und es fällt mir nicht leicht, die Zeilen hier zu verfassen. Viel schwerer ist es mir aber gefallen, den Roman „Immer noch wach“ (Haymon) von Fabian Neidhardt zu lesen. Ich nenne es den selbstgewollten Ausbruch aus der Komfortzone, denn seit meine Freundin mit 35 Jahren ihr Leben beenden musste und dann auch noch meine Oma in Bayern den Kampf verlor, habe ich um Bücher mit dem Thema Krebs einen großen Bogen gemacht. Weglaufen ist meistens der falsche Weg und so drehte ich mich um und lief direkt in die 268 Seiten. Vielleicht auch mit dem Wissen im Hinterkopf, dass der Tod bei Neidhardts Protagonist auf sich warten lässt?

Fuck Cancer

Als ich meiner Bekannten von „Immer noch wach“ erzählte, sie hat ihren Mann mit Mitte 40 verloren, merkte sie an, dass das ja sogar noch schlimmer ist. Also ein Buch lesen, in dem das Ende ein anderes ist als das schmerzhafte Ende, was wir alle aus dem wirklichen Leben kennen. Da gab ich ihr Recht, allerdings macht ein anderes Ende auch Hoffnung, denn schließlich gibt es auch Menschen im Umfeld, die den Krebs besiegen konnten. Kein einfaches Thema, überhaupt nicht.

Alex ist gerade mal 30 Jahre jung, als er erfährt, dass er Magenkrebs hat. Ihm zieht es komplett die Füße unter dem Boden weg, zumal er schon genug Leid in seinem Leben erfahren musste. Sein Vater ist an Krebs gestorben, als er noch ein Kind war und seine Mutter lebt inzwischen auch nicht mehr. Dabei hat Alex überhaupt keine Zeit für den Krebs, schließlich tobt um ihn das Leben. 30 Jahre ist doch kein Alter! Er hat Lisa, seine Freundin, seinen besten Freund Bene und seit kurzer Zeit den Türrahmen, ein Café. Alex ist am Boden und doch ist er sich schnell sicher, dass er alleine sterben möchte. Zu grell leuchten die letzten Bilder am Bett seines Vaters auf, der Verfall, die letzten schlimmen Tage bis zum Tod. Nein, das möchte er keinem Menschen zumuten.

Immer noch wach

Sein Entschluss steht fest. Alex möchte in einem Hospiz sterben, weit weg von seinen Freunden und Bekannten. Alleine für sich, er möchte sich komplett abnabeln. Es gibt eine letzte Abschiedsfeier, eine Art Beerdigung und dann steigt er in den Zug. Ohne Handy, ohne Telefonnummern und Adressen, nur er und sein Krebs. Seine eigene letzte Reise, alle Formalitäten sind geregelt, auch auf dem Friedhof hat er sich einen Platz reserviert.

„Kennst du diese Momente, in denen du dir die ganze Nacht Sorgen um etwas machst, das du sowieso nicht aufhalten kannst? Du deshalb nicht schlafen kannst, was es eigentlich nur noch schlimmer macht? Und dann passiert es und es ist überhaupt nicht schlimm und im Nachhinein fragst du dich, warum das Ganze. Vielleicht ist es mit dem Sterben genauso.“ (Seite 139)

Und dann kommt er an, im Ferienlager für Erwachsene, aus dem keiner lebend wieder zurück nach Hause fährt. Doch stimmt das?

Immer noch wach ~ Fabian Neidhardt

Fabian Neidhardt hat einen Roman geschrieben, der mindestens so hart wie das Leben ist, wenn das Schicksal nicht auf der richtigen Seite steht. Und trotzdem macht er Mut, denn Alex bekommt vom Leben neue Lebenszeit geschenkt. Allerdings genau dann, als die härtesten emotionalen Abschiedsmomente etwas überstanden und sämtliche organisatorischen Tätigkeiten abgeschlossen wurden. Ist das nicht verdammt unfair und doch mindestens genau so verdammt schön? Ein Gewinner unter den vielen Verlierern? Die Nadel im krebsenden Heuhaufen? Und doch: was nun?

Altes Leben ~ neues Leben

Es steht außer Frage, dass Neidhardts Roman einem Gefühlsstrudel gleicht und kein Auge trocken bleibt. Die extreme Steigerung der Gefühle erfolgt durch die Perspektivwechsel und die unvorhersehbare Wendung im Krankheitsverlauf. Dieses Paket ist kaum in Worte zu fassen, so gewaltig ist es. Auf Trauer folgt Freude, auf Freude folgt Verzweiflung und wenn Totgesagte auferstehen, ist das für alle Parteien ein Ereignis, was sich nicht so schnell verarbeiten lässt. Das Leben lebt ununterbrochen weiter und auch Lisa und Bene haben Alex nicht vergessen, aber sie haben begonnen, ohne Alex weiter zu leben, auch wenn das nicht einfach ist.

„Aber Leben und Fairness passen eh nicht zusammen.“ (Seite 130)

Der Perspektivwechsel ist es, der unser Leser:innen fordert und an unsere Grenzen bringt. Zudem holt er in unserem Gedächtnis die letzten Gespräche wieder hervor, die wir mit Menschen geführt haben, die sich dem Krebs geschlagen geben mussten. Einerseits ist da Verständnis für Alex selbst, für seine Gedanken und seine Entscheidungen im Hinblick auf die negativen Erlebnisse, die er in seinem Leben schon machen musste. Anderseits ist aus Sicht von Lisa überhaupt kein Verständnis für Alex da, denn welche Freundin will ihren Freund schon in den schweren Stunden alleine lassen? Es prallen Welten auf Welten und Mauern auf Mauern, doch Fabian Neidhardt gelingt es geschickt, die Situationen immer wieder neu zu drehen. Seine Charaktere sind treffend realistisch und sympathisch zugleich, die kurzen Kapitel und Erzählzeitsprünge wahnsinnig dynamisch.

„Akuter Herzinfarkt, sagen sie. Vielleicht ist das der medizinische Begriff für ein zu oft gebrochenes Herz.“ (Seite 168)

Gefühlsachterbahn

„Immer noch wach“ ist nicht nur ein Gefühlsstrudel, eher eine ganze Achterbahn, die sich um Vergangenheit und Gegenwart windet. Die sich um Zukunftsgedanken schlängelt und nicht nur gewaltig wackelt und ruckelt, sondern auch zieht und schiebt. Ein tief recherchiertes und gelungenes Debüt mit Garantie für ein lachendes und ein weinendes Auge.

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4 Comments on Immer noch wach ~ Fabian Neidhardt

  1. Oh Bini….ich habe gerade deine Worte gelesen und mir laufen die Tränen die Wange runter. Und du hast so so so Recht! Krebs ist ein Arschloch! Ich habe meine geliebte Patentante, meinen Onkel, meinen Opi daran verloren und weiß, dass ich auch meine Omi bald deswegen verlieren werde. Sie kämpft seit fast drei Jahren und man merkt wie das immer mehr Spuren hinterlässt und an unser aller Nerven zehrt.
    Ich werde mir das Buch merken, denn es gibt Zeiten, in denen ich genau solche Bücher brauche um alle Gefühle rauszulassen, richtig ordentlich zu heulen um dann gestärkt nach vorne zu gucken. Das klingt total komisch, oder?
    Kennst du „die letzten Tage der Rabbit Hayes?“ – das war auch so ein Buch!
    Fühl dich ganz doll gedrückt aus der Ferne!
    Deine Verena

    • Nein, klingt nicht komisch, ich verstehe dich. Danke für den Buchtipp – kannte ich tatsächlich noch nicht. Ich muss da auch nur auf mich aufpassen und merke mir das auch vor.
      Drück dich – Bini

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