Wir lieben unsere literarischen Zeitreisen und lassen uns immer wieder gerne von Autoren in längst vergangene Epochen entführen. Wir lieben es, zu fühlen, zu erleben, zu ertasten und letztlich auch zu erkennen, warum bestimmte Geschichten sich nur zu bestimmten Zeiten ereignen konnten. Wir möchten dabei sein… mit Haut und Haaren… mit voller Leidenschaft.
Das Jahr 1913 mit seinem Sommer des Jahrhunderts haben wir tief in unsere Herzen geschlossen und die Einladung des Dresdner Buchverlages, uns gemeinsam mit dem Schriftsteller Michael Braun in das Jahr 1923 zu begeben, war einfach zu verlockend. Was hat sich wohl in 10 Jahren verändert, wie hatte man den Ersten Weltkrieg überstanden und was würde uns in Dresden erwarten? Die Freude war riesig, als wir endlich den Hauch eines neuen Jahres erfühlen durften, auch wenn es aus heutiger Sicht schon 90 ist.
Doch was war das…? Eine unfassbare wirtschaftliche Krise hatte Deutschland fest im Griff. Inflation hieß das Schreckgespenst des Alltags. Die Preise stiegen ins Unermessliche und der Wert des Geldes verfiel zusehends. Ein Laib Brot für ein paar Millionen Reichsmark – unvorstellbar. Und der kleine Mann auf der Straße wusste von Stunde zu Stunde nicht, wie er die nächsten Minuten überleben sollte. Das Nachkriegsdeutschland – bis zum Hals verschuldet bei den Siegermächten… am Boden liegend… perspektivlos… Depression.
Wäre da nicht eine aufrecht kämpfende Frau, die sich der mit Macht des großen Entertainments gegen die dunkle Seite in den Gedanken der Menschen stellte. Madame Katharina Jakublonski… jene große Jakublonski… die Directrice des nach ihr benannten Monstrositäten-Cabinets kämpfte um das Wohlwollen des Publikums und gastierte mit ihrer illustren Compagnie in den bedeutendsten Städten des Landes.
Aber an diesem Neujahrstag sieht man sie verzagt in ihrem kleinen Hotelzimmer sitzen. Inventur ist angesagt und es wird sich weisen, ob die Zukunft der Freak-Shows bereits der Vergangenheit angehört, oder ob es ihr wieder einmal gelingt, ihre Truppe über Wasser zu halten. Wäre doch gelacht, bei ihrem Kampfgeist und Improvisationstalent. Das muss zu schaffen sein… vor allem in Anbetracht ihres Personals:
Jeder Einzelne eine Sehenswürdigkeit, jeder Einzelne eine große Nummer und das gesamte Ensemble in seiner abnormen Andersartigkeit unvergleichbar mit den sonstigen Fluchten aus dem Alltag. Und doch… Die Einnahmen schrumpfen und der Unterhalt der vielköpfigen Schar verschlingt mehr als das Eintrittsgeld in die Kassen der Truppe spült. Der Todesstoß für das Unternehmen… wäre da nicht Madame Jakublonski… und wäre da nicht eine magische Begegnung mit einem ganz besonderen Mann und geschähe nicht plötzlich ein kleines Wunder in einer der Vorstellungen…..
DER MANN… Ein Forscher, könnte man fast sagen… Joseph Anton Kartiganus – Leiter der anatomischen Fakultät der Universität Jena… ein Gelehrter sollte man meinen…! Ein rechtschaffener Rechtsmediziner, der vom rechten Weg der Wissenschaft gar heftig abgebogen ist, da auch für ihn die Zeiten mehr als schwierig sind. Er sucht Nachschub, je ausgefallener je besser und doch stößt er bei Madame auf taube Ohren, als er ihr eindeutig zweideutige Angebote macht… für die Schlange… für die Zwillinge… die Rechtsmedizin müsse doch die Studenten versorgen. Und als er gänzlich erfolglos das Feld räumen muss bleibt ihm noch ein Versuch. Auch normale Körper würde er kaufen… besser als nichts, aber eigentlich wären ihm Abnormitäten irgendwie lieber.
DAS WUNDER…: Ein weiterer Mann.. ein sehr wohlhabender Mann aus den Staaten.. steinreich… und mausetot… das Herz muss es gewesen sein, während einer Vorstellung und eigentlich ist es ein Fall für die Polizei. Aber da kommt Madame ein blitzgescheiter Gedanke. Warum eigentlich nicht…? Für einen nicht unerheblichen Geldbetrag… und er ist ja schließlich bereits verschieden… Ein Wunder wie gesagt. Sie kann doch nichts dafür… Eigentlich. Und da ist das letzte Angebot von Kartiganus und die Zeiten sind schlecht… also warum nicht?
Und so wechselt ein eben frisch Verstorbener den Besitzer – ganz zum Wohle der hungernden Compagnie, die ein paar Tage schlemmen und feiern kann. Ungewohnter Wohlstand. Doch er hält nicht lange an und Madame wäre nicht Madame, wenn sie nicht irgendwie Blut geleckt hätte. Zwar sterben nicht viele Zuschauer in den Vorstellungen, aber da kann man doch ein wenig… nachhelfen vielleicht… nur ein wenig…
Leichenhandel und Mord – sicherlich unschöne Formulierungen… vor allem in Anwesenheit von zwei Polizeiinspektoren, die der Truppe auf die Schliche kommen und auf ihre ganz eigene Art und Weise die Ermittlungen aufnehmen… Eine rasante Verfolgungsjagd beginnt… spurlos untertauchen möchte Madame (na klar – kein Problem mit Monstrositäten im Gefolge) – ans Licht der Welt zerren möchten sie die Polizisten….
Eine turbulente Reise nimmt ihren Lauf und die Truppe hält in diesen Zeiten wie Pech und Schwefel zusammen, bis eines Tages das Unfassbare geschieht… in Italien… das Elefantenbein der Elefantenfrau beginnt zu heilen und die Künstlerin droht ihren Wert zu verlieren. Keine Attraktion mehr… Wertlos… Außer… Kartiganus…. Nein – undenkbar… denken wir! Madame wird doch nicht…? Wird sie?
Michael Braun ist mit seinem neuen Roman „Madame Jakublonskis Monstrositäten-Cabinet“ ein für die heutige Zeit außergewöhnliches Buch gelungen. Seine Sprache versetzt die Leser in präziser Wortwahl, geschliffenem Ton und der einzigartigen Melodie der Erzählung zurück in jenes Jahr 1923. Sein Sprachwitz gepaart mit seinem ganz eigenen schwarzen Humor, der von Seite zu Seite an Schwärze zunimmt, lässt eine atmosphärische Dichte entstehen, die seinem Roman Tempo und Schwung verleiht.
Die Monstrositäten verlieren von Seite zu Seite ihre Abnormität und wachsen dem Leser ans Herz. Selbst Madame wächst ans Herz… auch an jenen Stellen, an denen sie sich am Herzen anderer vergreift. Sie tut dies nicht für sich selbst. Sie ist die Mutter ihrer Compagnie, für die sie alles geben würde und letztlich auch gibt. Es ist eine ganz eigene Welt, in der wir zu Gast sein dürfen. Margrit Schriber hat uns bereits vor Jahren mit „Die hässlichste Frau der Welt“ in das Metier der Freak-Shows eingeführt und oft mussten wir beim Lesen an ihren gefühlvollen Roman über das Schicksal Julia Pastranas denken.
Michael Braun gelingt es im Zusammenwirken mit dem Dresdner Buchverlag erneut, uns für jene Zwischenwelt des Absurden zu begeistern. Er verleiht seinen Protagonisten Tiefe und Individualität. Er macht sich nicht über sie lustig… er macht sich mit ihnen gemeinsam über die normale Welt lustig. Die Compagnie ringt der monströsen politischen und gesellschaftlichen Situation durch ihre eigene Monstrosität eine Seite ab, die in ihrer satirischen Skurrilität die Frage aufwirft, wer in diesen Zeiten eigentlich wirklich normal war. Die Anderen oder die Freaks?
Wir stehen auf der Seite der Freaks… Michael Braun sei Dank für die tiefen Einblicke in die menschlichen Abgründe in Zeiten der Not… und vielen Dank für die ungezählten köstlichen Stunden des verschmitzten, schadenfrohen, hemmungslosen und heimlichen Lachens, die er uns beschert hat. Und über allem haben wir gefühlt und mit gelitten… mit jedem Einzelnen.
Kauft euch schnell eine Eintrittskarte und besucht mit „Madame Jakublonskis Monstrositäten-Cabinet“ die Vorstellung eures Lebens – und passt auf euch auf, es könnte selbiges kosten 😉
Ein toller Beitrag *-*
Bitte gern!