11000 Meter
Egal was andere Leser*innen sagen, mich hat Jasmin Schreiber unglaublich berührt. Mir kam es so vor, als ob sich die Autorin Sätze aus meinem Kopf geholt und wortwörtlich wiedergegeben, sie ENDLICH ausgesprochen und mir vorgelegt hat. Ihre Schreibarme haben mich nicht in die Tiefe gezogen, eher die tiefen Worte an die Oberfläche gebracht und gezeigt, dass wir alle schwimmen und gegen hohe Wellen ankommen können.
Marianengraben
Gute 11000 Meter ist der Marianengraben im westlichen Pazifischen Ozean tief und so weit unten befindet sich Jasmin Schreibers Protagonistin Paula. Sie leidet seit dem Tod ihres 10-jährigen Bruders an einer Depression und findet seit zwei Jahren keinen Weg, der Krankheit zu entkommen. Natürlich ist sie in Behandlung, natürlich möchte sie in ein normales Leben zurück und natürlich muss sie immer und immer wieder an ihren Bruder denken, die Schmerzen des Verlustes fühlen und die Schuld am Tod bei sich suchen.
Wegen des Konzertes ist Paula nicht mit in den Urlaub nach Mallorca gefahren. Wäre sie nicht auf das Konzert gegangen, wäre ihr Bruder wohl nicht ertrunken. Sie hätte auf ihn aufgepasst, ihn beschützt, überwacht, gerettet. Paula war beim Konzert. Ihr Bruder Tim ist ertrunken.
„Man kann das Leben nicht aufhalten, wissen Sie. Das geht nicht. Und den Tod kann man auch nicht kontrollieren, weil er nun einmal zu diesem bekloppten Ritt namens Leben gehört.“ (Seite 187)
Sie schafft es, nachts das Grab ihres Bruders, dem Abenteurer und Meeresforscher, zu besuchen. Doch schnell stellt sie fest, dass sie nicht allein ist. Sie trifft auf Helmut, der gerade seine Freundin Helga abholt. Und ehe die beiden wissen wie ihnen geschieht, müssen sie den Friedhof fluchtartig verlassen. Noch auf der Friedhofsmauer vergewissert sich Helmut, dass Helgas Asche sich auch wirklich in der ausgebuddelten Urne befindet. Beim Öffnen passiert das Unglück und Paula findet sich im Ascheregen wieder.
Roadtrip
Wie es dann weitergeht, könnte skurriler nicht sein und doch hat diese gefühlt unrealistische Komik einen ernsten, auch realistischen Hintergrund und Beigeschmack. Das ungleiche Paar verbindet der Tod zu geliebten Menschen und genau diese emotionale Verbindung reicht aus, Grundlage für einen Roadtrip zu sein, der für Tränen der Freude, aber auch der Traurigkeit sorgt.
Jasmin Schreiber hat mich mit ihrem Roman auf meiner feinfühligen Seite erwischt. Gleich die ersten Seiten haben mein Herz zum Bluten gebracht, in meinem Kopf habe ich Tim durch andere Menschen ersetzt und somit hat sich der Schmerz der Erinnerung direkt bemerkbar gemacht. Paula beschreibt ihren Bruder Tim sehr detailliert, weiß ganz genau, wie er über bestimmte Dingen denken würde. Sie holt vergangene Gespräche hervor und denkt darüber nach, wie Tim heute wäre. Diese wenigen Worte haben mich so tief erreicht, dass ich mich Paula und Tim sehr nahe fühlte. Für mich gab es kein lesendes Zurück mehr, ich begab mich auf den Roadtrip, der von urkomischen und sehr übertriebenen Situationen gezeichnet ist.
Freude & Trauer
Die Gespräche zwischen Paula und Helmut haben mir wirklich viel gegeben. Ich musste lachen, aber auch ein wenig laut seufzen, denn die Worte über Versprechen, Trauer und Verlust setzten sich wie schwere Steine in meinem Magen fest. Diese besondere Stimmung zwischen den Leidensgenossen, die sich während ihres emotionalen Ausfluges dennoch siezten, hat mich begeistert. Eine Mischung aus lebensbejahenden Momenten, eine Aneinanderreihung von abwegigen Situationen und viele geheimnisvoll-lebenserfahrene Gespräche und ermunternde Ratschläge.
„Das Schlimme an der Trauer ist ja, dass sich die Welt um einen herum einfach weiterdreht.“ (Seite 68)
Biologin Schreiber bedient sich dem Klischee „alter Mann trifft auf junges Mädchen und erklärt ihr das Leben“, was mich scheinbar nicht gestört hat, da mich ihre Worte über Paulas Empfindungen so tief erreicht haben. Die ganzen oberflächlichen Wegpunkte habe ich akzeptiert, da in meinem Kopf so viele Momente aus meinem Leben in den Vordergrund rückten. Selbst das unterwegs adoptierte Huhn konnte mich kaum abschrecken, Schreibers Wortarme haben mich im Roman gehalten, den ich in kurzer Zeit verschlungen habe. Auch Helmut hat mich mit seinen Worten und seinem Schicksal ziemlich bewegt.
Situationskomik
Die Mischung aus Situationskomik und schmerzendem Verlust, diese Ausgewogenheit, hat nicht zugelassen, dass die eigentliche Schwere des Themas Besitz ergreift oder die Stimmung runterzieht. Ich kann einfach nur schwärmen, da mir der Roman persönlich so verdammt viel gegeben, mir irgendwie geholfen hat. Ja, so möchte ich das sagen.
Mich hat „Marianengraben“ (eichborn) genau zur richtigen Zeit erwischt und mir wahrlich viel gegeben. Ich war am Meer, glücklich, recht kopffrei, unvoreingenommen und schon hat sich das Lesehighlight vor mir entblättert. Die Autorin, die ehrenamtlich als Sterbebegleiterin arbeitet, hat mich Kraft schöpfen lassen und über ein schweres Thema, wirklich leicht, regelrecht unterhaltend, geschrieben. Auch optisch ist das Buch ein Hingucker!
So toll, deine Rezension. Ich werde es bestimmt lesen…
Alles liebe
Micha
Ich mag es sehr, sehr, sehr.