Das mich hinter dem Cover so ein packender Krimi, so eine ergreifende Familiengeschichte erwartet, habe ich nicht gedacht. Ich bin immer noch aufgewühlt, denn die knapp über 400 Seiten von Long Bright River (C.H. Beck) habe ich in Rekordzeit verschlungen. Liz Moore hat mir ein unglaubliches Lesevergnügen beschert.
Es kommt eher selten vor, dass mir während des Lesens oder nach dem Lesen eines Buches ein Lied in den Kopf rauscht. Ich höre auch beim Lesen keine Musik, dabei mag ich Musik sehr. Und wenn ich das schon sage, gebe ich gern zu, dass ich der totale Radio/Chartshörer bin und einige Lieder x-Mal hintereinander höre, da ich nicht genug bekommen kann. Das ich dabei mein Umfeld gern vertreibe, kannst du dir sicher denken. 254 Seiten später schoss das Lied „Warum“ von Tic Tac Toe in meinen Kopf…
Und warum? – die Frage stelle ich mir, wenn ich an Marlene Beckmann denke. Marlene feiert Geburtstag, sie ist nun 31, aber auf was kann sie zurückblicken, was kann sie bald erwarten und was passiert eigentlich gerade eben? Da ist Ronny, der Gute, der liebe Apotheker, der Freund, der immer die passende Chemie dabei hat. Auf Ronny ist verlass. Da sind ihre Freunde die ebenfalls gern Party machen und gern eine volle Nase haben, um die Welt bunt zu sehen und richtig genießen zu können. Ihre Eltern sind getrennt – der Vater ist kaum noch in ihrem Leben spürbar, ihre Mutter trinkt ganz gerne und lebt in ihrer grauen Welt. Dafür hat sie aber einen wirklich lieben Freund. Er ist für sie da, er möchte mit ihr den dringend notwendigen Urlaub machen und er könnte ihr Ruhepohl nach dem stressigen Arbeitstag sein.
Aber: Marlene geht es gut – sie gibt im Job alles, sie arbeitet an sich, um weiterhin in der Firma bleiben zu können, um Karriere zu machen und um nicht austauschbar zu sein. Sie postet Bilder auf sämtlichen Sozial Media Kanälen und sammelt Herzen die ihr ein gutes Gefühl geben und immerhin kann sie auf die Frage, wie es ihr geht, immer mit „Super…“ antworten. Läuft doch! Wo liegt das Problem?
„Freundlich, professionell, klar. Das ist Marlene Beckmann. Keine Angst. Niemals Angst zeigen. Angst und Unsicherheit sind für Menschen, die nicht wissen, was sie tun. Ich aber weiß, was ich hier mache. Ich weiß es.“ (Seite 45)
Super, und dir?
Aber jetzt mal im Ernst. Wie geht es dir eigentlich? Bist du auch nur im Job und hast den typischen Erfolgsdruck in dir? Vielleicht musst du auch die Notbremse ziehen, um nicht in den fiesen Strudel zu kommen, in den Marlene gerutscht ist. Es wäre schade um dich und um mich vielleicht auch.
Als Marlene auf dem Zahnfleisch kriecht, keinen Urlaub bekommt und ihr Freund alleine nach Teneriffa reist, ist es vorbei. Marlene bleibt liegen und ich würde das ab und an gerne auch tun, dabei geht es mir nicht mal annähernd so wie ihr. Mein Umfeld besteht aus Freunden, die ich wirklich Freunde nennen kann, meine Familie ist in Takt und ich bekomme Halt, wenn ich ihn brauche.
Kathrin Weßling kommt hier mit einem Buch um die Ecke geschlendert, was schonungslos umhaut, wachrüttelt, bewegt und trifft. Ein Buch was so maßgeschneidert auf unsere Generation ist, was mich so derbe anspricht und genau in das Lebensfenster passt. Als ich in der Sonne den Roman begann, hatte ich danach den totalen Sonnenstich, denn ich konnte kaum pausieren. Die Sogkraft ist so groß, ich fühlte mich beim Lesen wie ein Junkie und hungerte danach zu wissen, wie es mit Marlene weitergeht. Und warum? Die Frage kam immer wieder in mir auf.
Klar habe ich gefühlt, dass alles auf einen richtig großen Arschtritt hinausläuft, aber ich musste den auch spüren. Zudem hatte ich keine Chance, Marlene alleine zu lassen. Trotzdem war ich machtlos und selbst im Zwiespalt, wie ich helfen kann, wie ich den Absturz verhindern kann. Ich hätte Marlene gerne geschüttelt, angeschrien, ihr diese Scheißchemie weggenommen und manchmal saß ich nur schwach da und fühlte mich von ihr genervt.
Harter, beklemmender Stoff – das möchte ich nicht weichreden und doch buchiger Stoff, der ganz dringend inhaliert werden sollte. Marlene fühlt sich so real an, dass ich fast schon bei ihr vor der Tür stand. Kathrin Weßling musste eine Protagonistin erschaffen, die authentisch ist, um ihre Leser zu treffen und das ist ihr gelungen. Sprachlich ganz genauso – locker, luftig, einfach real, so wie wir uns eben geben.
Genau nach der letzten Seite kam ich via Instagram mit Kathrin Weßling in Kontakt und fragte sie, wie es Marlene geht, was sie wohl gerade macht. „Sie schläft hoffentlich“ – antwortet Kathrin und befriedigte damit mein Inneres.
Ein Kommissar steht bei einem Drogendealer in der Schuld. Ein Ex-Junkie arbeitet als Polizeispitzel. Ein russischer Mafia-Boss wird übers Ohr gehauen. Ein 18-Jähriger übernimmt das Drogengeschäft seines Vaters. Ein bestechlicher Gefängniswärter droht aufzufliegen. Fünf Männer, die in der Falle sitzen. Sie alle wollen ihr Leben wieder in geordnete Bahnen lenken. Doch während ihre Wege sich kreuzen, steuert einer nach dem anderen unweigerlich auf die Katastrophe zu.
Über den Autor:
Marko Leino wurde 1967 in Helsinki geboren, wo er auch heute noch lebt und schreibt. Er ist Schriftsteller und Drehbuchautor. „Wunder einer Winternacht“ ist der größte finnische Kinoerfolg aller Zeiten. Hundertausende ließen sich zu Tränen rühren.
Abgefuckt. Ja ihr lest richtig, da steht das Wort abgefuckt. Lange habe ich überlegt, ob ich dieses verwenden kann. Egal wie, ich muss es verwenden, es gibt nur ein Prädikat, was zu diesem Roman passt: abgefuckt.
Stella. Stella ist betrunken. Stella kotzt. Stella nüchtert etwas aus. Stella geht tanzen. Stella nimmt MDMA. Stella hat Sex. Stella geht schlafen.
Bereits die ersten 10 Seiten lassen erahnen, was den Leser erwartet. Genau in der beschriebenen Abfolge beginnt Palombas Roman um Stella. Diese lernen wir auf einer Party kennen, als sie sich in sehr angetrunkenem Zustand entschließt, zu einer anderen Party tanzen zu fahren. Dort holt sich Stella dann den ultimativen Kick, denn sie will mehr. Mehr erleben, intensiver, abgefahrener – so wie nie zuvor.
Dieser Abend verändert Stella vollkommen. Die Drogen, der Sex mit Marco, der spezielle Gefühlsmix an sich hinterlässt in ihr Spuren. Spuren die nach Veränderung rufen und kurzerhand trennt sie sich von Donato, ihrem Freund. Ihr bisheriges recht braves Leben, sie kommt aus einer ordentlichen, normalen Familie und studiert Philosophie, muss nach und nach etwas Neuem weichen.
Stella bricht innerlich aus, sucht die grenzenlose Freiheit und stürzt sich in einen Sumpf. Das selbstgewählte Spiel mit dem Feuer beginnt.
Achtung es wird abgedreht, denn eine Story im Rausch der Gefühle, der Sinne, der Körper beginnt.
Die Liedzeilen der Band „Materia“ – „…wir reißen uns von allen Fäden ab…“ und „…wollen mehr sein, mehr sein, als nur ein Moment…“ klingen in meinem Kopf.
Wo andere vielleicht noch Hemmungen haben, hat Stella keine. Sie konsumiert was sie konsumieren kann und probiert alles aus, was man nur ausprobieren kann. Opium, Koks, Ketamin, MDMA – bis hin zu diversen Mischungen, alles ist dabei und sie leistet sogar mit einer Heroinspritze erste Hilfe. Sie lässt nichts aus, kann nichts auslassen, denn der Reiz ist einfach zu groß.
Marco geht Stella nicht mehr aus dem Kopf und um ihm zu gefallen, lässt sie alles zu. Grenzenlos gibt sie sich ihm hin und das Konsumieren der Drogen gehört gleich zu Beginn eines Treffens, bei denen sie gnadenlos mit dem Feuer spielt, dazu. Zu den Drogen gesellt sich ganz automatisch und selbstverständlich der Sex, welcher gerade in zugedröhntem Zustand zu einem unbeschreiblichen Abenteuer des Rausches wird.
Immer mehr, immer weiter, ohne extreme Steigerungen hat Stella keine Chance. Einfachheit ist nicht mehr erregend genug, es muss pervers sein, anders sein, Extremismus pur.
Als Leser fühle ich mich bereits nach den ersten Seiten schon wie unter Drogen und Alkohol und gebe mich den Worten Ilaria Palombas hin und das Karussell läuft schneller und schneller. Die Worte abgefuckt aber gut, schwirren mir durch den Kopf und die ein oder andere Szene entlockt mir ein leichtes Schmunzeln der Erinnerung.
Ich bin einerseits aus unerklärlichen Gründen fasziniert von Stella und verfalle in einen Rausch. Ebenso allerdings ekel ich mich vor ihr und der zunehmenden Naivität. Vor allem als der Drogenkonsum zum Alltag gehört und sie immer mehr zu versinken droht. Dennoch ist ihr scheinbar doch bewusst, was sie tut. Sie spielt gern mit dem Feuer, kann ihre Finger weder von Marco noch von den Drogen lassen und selbst als die Exzesse ins Unermessliche ausufern, kann sie die Notbremse nicht ziehen. Sie zieht sie auch absichtlich nicht, sie kann es nicht, will es nicht, schafft es nicht, möchte es nicht schaffen.
Die Distanz zu ihrem bisherigen Leben wächst, sie entfernt sich von ihren Eltern, sagt sich von den ehemaligen Freunden los und treibt von Trip zu Trip in völlig neue Umfelder hinein. Mit fast 20 Jahren sind auch ihre Eltern machtlos. Deren Hände sind gebunden und sie verlieren ihre Tochter. Kontrolle unmöglich, selbst die größten Bemühungen verlaufen ins Leere.
Neugierig ziehe ich beim Lesen selbst Parallelen zur Autorin. Sie selbst lebt ebenfalls in Italien, hat blonde Haare, ist Mitte zwanzig und studiert ebenfalls Philosophie. Der Roman – ein Einblick in ihr früheres Leben oder gar in ein Leben, welches sie gern probiert hätte und es nun schreibend auslebt? Oder verarbeitet Ilaria Palomba ihre ehemalige Drogenlaufbahn?
Der Schreibstil der Romandebütantin ist ein einziger Rausch und doch wird die Protagonistin Stella von außen betrachtet, es wird über sie und ihr Handeln erzählt. Von Stella selbst werden konstant Gedankensamen eingestreut, in welche sich der Leser von Anfang an begeben muss. Gerade diese erzeugen den wahnsinnigen Sog, den gewissen Rausch und lassen den Trip miterleben.
Am Ende, als das Handlungsfass keinen Boden mehr hatte, gab es einen Knackpunkt für mich selbst. Ein Punkt namens Distanz, ein Moment des Erwachens, denn die Autorin erzeugte mit ihrer Protagonistin eine Situation, die mich dazu brachte, mir ein Gegenmittel zu spritzen.
Ich musste atmen, das Gedankenkino unterbrechen, ich musste runter vom Trip. Der Roman musste zur Seite gelegt werden, da ich selbst erwachte und ich mich, wie auch Stella anschrie. Ich versuchte es und schaffte es nicht, die Atemluft war zu dünn.
Abhängigkeit im Tal der absoluten Tiefe. Abgrund.
Dieser Roman ist speziell. Er ist sehr speziell, er ist krass, er ist krank, er ist ekelhaft und doch so abgefuckt, dass er einen unwiderstehlichen Reiz hat.
Er ist voller Gewalt, voller Drogen, voller Narben, voller Schmerz, voller Perversität und doch hat er diese magische Anziehung, die mich in seinen Fängen hielt. Genau wie Stella komme ich immer wieder angekrochen, obwohl ich weiß, was passieren wird.
Dieses Buch kann man nicht empfehlen, da es keine richtigen Argumente gibt. Es wäre vergleichbar mit einer Empfehlung Drogen zu nehmen. Dies tut niemand, auch ich nicht. Die innere Stimme muss nach diesen Worten bestimmen, ob der Stoff konsumiert werden sollte oder nicht. Diese innere Stimme sollte allerdings volljährig sein, denn „Tu dir weh“ spricht Gossenklartext und der liegt so manches Mal schwer im Lesermagen und zerrt an der Psyche.
Für mich persönlich ist dieser Roman eine Droge, welche ich in meinem Leserleben nicht missen möchte. Mich hat dieser Stoff angezogen, nicht mehr losgelassen und ich habe alle Höhen und Tiefen durchleben müssen und auch können. Er hat sogar bewirkt, dass ich zwei Tage kein neues Buch beginnen konnte, ich brauchte regelrechten Entzug.
Ich bin drogenabhängig und die Droge hat einen Namen „Tu dir weh“.
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