Fakt ist, dass ich durch und durch Delphine de Vigan Leserin bin und mich abgöttisch freue, wenn ich ein neues Buch von ihr in den Händen halte. „Die Kinder sind Könige“ (Dumont) – mein erstes Buch von ihr, welches ich nun als Mutter von Zwillingen lese. Als Mutter, die auf Instagram aktiv ist und meist täglich eine Story oder einen Post online stellt. Muttersein verändert die Gefühle und Sichtweisen und Delphine de Vigan hinterfragt diese nun in ihrem neuen Roman.
Schlagwort: Delphine de Vigan
Dankbarkeiten ~ Delphine de Vigan
Die Frage „Von welchem Autor liest du alle Bücher?“ ist mir auf Instagram begegnet und die kann ich ziemlich schnell und einfach beantworten: Delphine de Vigan.
Zumindest fällt mir kein anderer Autor ein, von dem ich schon sieben Bücher gelesen habe. Sebastian Fitzek war mal nah dran, aber die Psychothrillerzeiten sind bei mir vorbei. Thommi Bayer ist mit mehr als sieben Büchern im Regal vertreten, aber ich habe hier noch keins vorgestellt. Warum eigentlich nicht? Und ja, Ursula Poznanski könnte ich auch nennen, aber nicht alle überzeugen mich wohl so sehr wie die Bücher von Delphine de Vigan. Die uneingeschränkte Empfehlung gleich vorweg, denn „Dankbarkeiten“ hat mich sehr berührt und bewegt.
Loyalitäten ~ Delphine de Vigan
Loyalitäten – egal wem gegenüber, sollten nicht aufgegeben werden. Ich halte mich selbst für sehr loyal. Zudem bin ich eine erfahrene Delphine de Vigan Leserin – ich habe alle Romane von ihr verschlungen, einige schneller und andere nicht ganz so schnell. Ein wenig enttäuscht war ich von „Tage ohne Hunger„, aber sonst -> Begeisterung pur. Delphine de Vigan ist eine wahnsinnig gute Autorin, eine spannende Frau und sie hat sehr viel zu erzählen. Das Loyalitäten nur gut sein kann, nein, sogar sehr stark sein wird, hatte ich im Gefühl. Schon der erste Satz, hat mich umgehauen und mir sofort zwei Charaktere näher gebracht. Lehrerin Hélène und ihren 12-jährigen Schüler Théo.
Tage ohne Hunger ~ Delphine De Vigan
Ein knochiger Körper. Eine junge Frau die vor Schwäche kaum noch leben kann. Laure – hochgradig magersüchtig. Und jetzt, kurz vor der Begegnung mit dem Tod, in einer Klinik. Sie bleibt nicht gleich, aber sie bleibt und begibt sich in die Hände eines Arztes. Sie vertraut.
Für Laure beginnt ein völlig neues Leben. Sie muss sich mit Kalorien und Fett anfreunden – ihre größten Gegner. Sie muss eine Magensonde tragen und sie hat kranke Mitmenschen um sich. Die 19-jährige wird ab und an besucht, denn sie wird in diesem Klinikzimmer mehrere Wochen verbringen. Der erste Schritt in ein normales Leben ist getan und Laure kann es schaffen, wenn sie will und sich schnell dazu entschließt. Ihr Körper besteht fast nur noch aus Knochen – sie ist ein 1,75m großes Skelett, sie wiegt 36 kg. Kaum vorstellbar. Schlimm. Schmerzhaft, wenn man nur daran denkt.
Laure ist kalt, sie friert, sie muss sich wärmen, denn ihr Organismus fährt auf der letzten Stufe. Laure sucht Beachtung, die Magersucht ist ihr Hilfeschrei – der Auslöser ihrer Krankheit sind ihre Eltern. Aber das Hungern gibt ihr Kraft, gibt ihr Macht und es fühlt sich gut an. Ein Teufelskreis.
Magersucht
Nun lebt sie in der Klinik, dank des Arztes – ihrem Anker, dem sie vertraut, durch den sie den Versuch der Heilung wagt. Laure beobachtet ihr Umfeld. Sie lebt in einem Leben im Leben und lernt Menschen kennen, die anders krank sind und beginnt zu schreiben, von den anderen herausragenden, regelrecht schillernden, Persönlichkeiten und ihren Problemen.
Schon wenn ich die Romane von Autorin Delphine De Vigan sehe, habe ich ein gutes Bauchbuchgefühl. Egal über welches Thema sie schreibt, sie hat mein Vertrauen. Ich weiß, dass sie mich durch ein Leben führt, an das ich mich erinnern werde. Sie stellt mir Charaktere vor, die beeindruckend sind und sie schreibt dicht und tief, auch über Magersucht. Knappe 178 Seiten war ich an Laures Seite, 13 Kapitel durch maagere leere Seiten getrennt, passend zum Leben der Hauptprotagonistin.
Kämpft gegen die Sucht!
Delphine De Vigan hat es wieder geschafft, ein wichtiges Thema in aller Tiefe in einem Roman unterzubringen. Ihr müsst nicht magersüchtig sein, um dieses Buch zu lesen. Es ist eher ein bewegender Ausflug in ein Leben einer Süchtigen und deren Leidensgenossen. Der Roman ist keine schwere Kost, eher eine wichtige Kost, um zu sehen und regelrecht zu fühlen, wie es in diesen Menschen aussieht. Der Roman rüttelt wach und bietet einen bewegenden Ausflug in ein krankes, aber heilbares Leben. Und er gibt Kraft!
Einen Roman von Delphine De Vigan solltet ihr kennen. Ich habe meinen Vigan-Leseweg mit „No & ich“ begonnen, danach kam der Roman „Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin„. Anschließend tauchte ich in „Nach einer wahren Geschichte„, um in „Das Lächeln meiner Mutter“ alles zu erfahren. Ich freue mich schon jetzt auf den nächsten Roman aus ihrer Feder – ein MUSS, selbstverständlich.
Das Lächeln meiner Mutter
Das Lächeln der Mutter vor der wahren Geschichte
Literatur verbindet und damit meine ich die ständigen Kettenreaktionen die in der Literatur ständig vorhanden sind. Nicht nur wir Leser sind untereinander oftmals verbunden, wenn wir im gleichen Roman lesen. Auch die Romane sind verbunden. Manche indirekt und nur für Leser erkennbar, die tief zwischen den Seiten stecken und über Romanränder hinaus denken, manche so direkt, dass sich der Griff zu einem anderen Buch nicht vermeiden lässt.
Die Kettenreaktion sieht am Beispiel so aus: Als ich vor wenigen Tagen „Nach einer wahren Geschichte“ von Delphine de Vigan las und mich darüber austauschte, kam kurzerhand das Buch „Das Lächeln meiner Mutter“ zu mir. Denn um genau den genannten Roman geht es, den Vigan in ihrem neuen Buch thematisiert, auf das sie postalisch allerhand Kritik bekommt.
Ich hatte den Roman bis zu diesem Tag noch nicht gelesen und eigentlich hatte ich es auch nicht vor. Wäre der Austausch mit Arndt nicht gewesen, wäre das Lächeln nicht zu mir gekommen und ich hätte ein großartiges Buch verpasst. Lesen verbindet und die Verbindungen gehen weiter, denn Arndt hat sich nicht wie ich, in den Bestseller aus Frankreich gestürzt, dafür aber eine andere Stimme gefunden, wie er in seinem Artikel zeigt.
Genau diese Kettenreaktion kommt euch, liebe Leser, nun zu Gute. Wenn ihr also noch nicht zu „Nach einer wahren Geschichte„ gegriffen habt, lest unbedingt erst „Das Lächeln meiner Mutter“. Natürlich ist es andersrum auch nicht schlimm, aber der literarische Mehrwert ist um einiges höher. Delphine de Vigan hat zwei Bücher geschrieben, die enger nicht zusammengehören könnten. Beide Bücher sind autobiographisch und erreichen dadurch eine Tiefgründigkeit die uns Leser nah an die Autorin und auch an ihre Familie heran bringen.
Vigans Mutter ist tot
Nur zwei Tage habe ich im knapp 400 Seiten Roman verbracht. Zwei Tage war ich gefesselt in einer französischen Großfamilie, in der es keinen Stillstand gibt. Delphine de Vigan nähert sich schreibend ihrer Mutter bis zurück in deren Kindheit. Lucile ist das dritte von gesamt acht Kindern. Neun, um genau zu sein, denn als der kleine Antonin starb, nahmen sich die Eltern Georges und Liane einen weiteren Sohn namens Jean-Marc an.
Lucile hat sich als Kind oft gefragt, „…ob die Fruchtbarkeit ihrer Mutter eine Grenze hatte, ob sich ihr Bauch immer weiter so füllen und leeren und rosige, glatthäutige Babys produzieren konnte, die Liane mit ihrem Lachen und ihren Küssen überschüttete.“ (Seite 19)
Delphine de Vigans Mutter ist tot. Sie hat sich das Leben genommen. Ihr kam der Gedanken über sie zu schreiben, um nichts zu vergessen. Doch das Schreiben über einen Menschen der so unberechenbar vielseitig war, ist nicht einfach. Lucile passt in kein Raster. Lucile war ruhig und laut, sie hatte trockenen Humor, bewegte sich eigen, verliebte sich oft, lebte drüber und sie lebte drunter. Sie rauchte, sie lachte, sie zitterte, sie veränderte sich ständig, sie stieg auf und sie stürzte ab.
Um über einen Menschen schreiben zu können, muss man so viele Erinnerungen und Erzählungen zusammen tragen, um ein authentisches Lebenspuzzle zu erhalten. Delphine hat sich mit den Geschwistern ihrer Mutter getroffen, um mehr über Lucile zu erfahren. Sie hat alles aufgesaugt, von den schönen hellen bis zu den unschönen dunklen Seiten. „Und jetzt warten sie, sie fragten sich wahrscheinlich, was ich aus alldem machen würde, welche Form es annehmen, welchen Schlag es bedeuten würde.“ (Seite 39)
Lebendig sterben
Bereits auf den ersten Seiten spürte ich, dass mich hier Großes erwartet. Kein fiktionaler Roman, sondern ein wahnsinnig umfassendes Bild einer Familie, einer Mutter und einer Tochter, die nach Geborgenheit gesucht hat und ihre eigene Mutter nie richtig fassen konnte. Ihre eigene Mutter war immer auf der Suche und völlig anders als andere Mütter, die Glück und Liebe spürten. Doch vielleicht anders als andere Mütter, starb ihre Mutter – lebendig!
Die Art und Weise wie die Autorin schreibt, macht den Roman spannend. Sie nimmt uns Leser erst mit in die Welt ihrer Mutter, in die Kindheit von Lucile. Anschließend verbindet sie ihr Leben mit dem ihrer Mutter und nimmt durch die Verbindung gleichzeitig wieder Abstand auf. Sie taucht erneut in das Leben von Lucile ein und stellt sich dabei selbst in den Rand, um genau dann vom Rand aus in Richtung Lebensmittelpunkt zu laufen, um wieder anzuknüpfen.
Während sie über das Leben der Mutter schreibt, nimmt sie sich die Freiheit um immer und immer wieder selbst während ihrer Schreibphase aufzutauchen und ihre aktuellen Gedanken und Empfindungen nieder zu schreiben.
Sie verwendet Sätze die sich einbrennen, Sätze wie „…das Leid der beiden ist durch einen unsichtbaren tödlichen Faden verbunden.“ (Seite 139) und sie sagt selbst: „Ich beschreibe Lucile aus der Sicht des zu schnell groß gewordenen Kindes, ich schreibe über das Mysterium, das sie mir immer war, sie, die immer so präsent und zugleich so fern war und die mich nach meinem zehnten Geburtstag nie mehr in die Arme genommen hat.“ (Seite 167)
„Das Lächeln meiner Mutter“ ist ein beeindruckender Roman, welcher tief in das Leben von Delphine De Vigan blicken lässt. Als Leserin habe ich mich stellenweise unwohl gefühlt, so viel erfahren zu dürfen. Gleichzeitig will die innere Stimme mehr über diese Zeit und die Personen erfahren. Über alle Figuren die im Roman auftauchen, mit all ihren Fehltritten, aber auch guten Taten. Glück & Unglück voller Dramatik, voller Schmerz, aber vor allem voller Leben. Bedrückend, beeindruckend, hoffnungsvoll, interessant, schonungslos – ein ausuferndes Gefühlsfass, was ich zuletzt in dieser Stärke im Roman von Nino Haratischwili „Das achte Leben (Für Brilka)„ genießen durfte.
Großartige und durch und durch lebendige Literatur!
Ist das die Wahrheit, Delphine de Vigan?
Liebe Delphine de Vigan,
vor mehreren Jahren habe ich zwei Bücher von dir gelesen. Ich habe meine Erinnerungen an die zwei Bücher in Artikel verpackt und ihnen den Namen „Nebenwirkungen des Lebens„ und „Sackgasse„ gegeben. Zwei Bücher die mir nahrhafte Lesestunden gegeben haben.
Heute ist der Tag der Wahrheit, an dem dein neuer Roman das Licht im deutschen Buchhandel erblickt. Viele treue Leser warten schon lange auf diesen Tag. Endlich. Ein neuer Vigan-Roman. Ich durfte schon vor ein paar Tagen in dem Buch mit dem zweifarbigen Cover lesen. Vorn ist es rot, hinten ist es weiß. Das Seitenprofil einer jungen Frau zieht sich um den Schutzeinband. Nimmt man ihn ab, ist die junge Frau weg. Als ob sie nie da war. Der feste Bucheinband ist weiß. Schon die Gestaltung lässt erahnen, was uns erwartet.
Wirst du im Buch zu finden sein, liebe Delphine? Schreibst du die pure Wahrheit oder werden wir uns in einem Strudel der Fiktion wiederfinden?
Nimm es mir nicht übel, dass ich dich mit Du anspreche, aber nach den 348 Seiten bist du mir so vertraut und nach „Das Lächeln meiner Mutter“ noch viel vertrauter. Auch auf die gerade gestellten Fragen brauche ich keine Antwort mehr. Aber mal in Ruhe und von vorn und vor allem ganz ohne Spoiler, denn der Brief ist öffentlich und die Leser sollen wissen, dass sie hier lediglich eine intensive Lesempfehlung erhalten.
Über dein Buch schreiben und zwar so, dass nichts verraten wird. Eine kleine Herausforderung an alle Leser, die es weiter empfehlen wollen. Gemeinsam mit Arndt habe ich es gelesen, auch er hat Worte zu deinem Buch gefunden, wir haben uns ausgetauscht und während der Lesezeit bist du mit deinem Bestseller aus Frankreich „Das Lächeln meiner Mutter“ bei uns eingezogen. Während ich die Zeilen an dich schreibe, habe ich nicht nur „Nach einer wahren Geschichte im Kopf“, sondern immer und immer wieder das Lächeln. Beide Bücher gehören unzertrennbar zusammen und haben mir eine intensive Lesezeit beschert, die ich nicht missen möchte.
Rot – weiß – transparent
Dein rot-weißer Roman mit der jungen Frau darauf, liegt gerade rechts neben mir. Zahlreiche bunte Post-its halten Zitate fest und wichtige Wegweiser durch die Geschichte. Die wahre Geschichte. Die unwahre Geschichte. Durch deine Geschichte. Nach einer wahren Geschichte.
Alles beginnt damit, das sich dein Leben drehte, nachdem du dein letztes Buch veröffentlicht hast. Du hörtest auf zu schreiben. Drei Jahre lang. Delphine de Vigan – Autorin – hörte auf zu schreiben. Die Schreibunfähigkeit ist wohl das schlimmste im Leben als Autor. Eine nicht seltene Krankheit. Eine Krankheit die besiegt werden kann. Besiegt werden muss.
„Der Erfolg eines Buchs ist ein Unfall, aus dem man nicht unversehrt hervorgeht, aber es wäre unverschämt, darüber zu klagen.“ (Seite 30)
Drei Teile hat der Roman, drei Teile in denen du aus Stephen Kings „Sie“ zitierst. Selten lese ich Zitate vor neuen Abschnitten. Keine Ahnung warum. Doch diese Zitate gehören dazu, als ob King wusste, dass du sie brauchen wirst.
Und dann beginnt alles auf Seite 11. Die ersten Worte von dir lassen erahnen, was in dir vorgegangen sein muss, als du die ersten Zeilen über L. verfasstest. Die besagte L. die dein Leben erschütterte. Durcheinander brachte. Die dich herunter drückte. Die dich hoch zog. Die dein Leben in einen neuen Takt setzte.
Ein neues Buch erfordert Konzentration und jede Menge Kraft. Viel Kraft hast du auf der Buchmesse investiert und signiert und signiert, aber nicht bis zum Schluss. Ein erster Riss? Die Unordnung kam mit L. Du beschreibst, wie du sie auf einer Party getroffen hast. Du versuchst alle Einzelheiten zu erwähnen, um dir selbst vor Augen zu führen, was die Zeit mit L. in dir angerichtet hat. Was L. aus dir gemacht hat.
L.
Du erzählst aber nicht nur, dass L. schlecht zu dir war. L. war an deiner Seite. Sie hörte dir zu. Sie versuchte dich oft zu treffen. Sie lieh dir ihr Ohr und gab dir nicht nur dann Antworten, wenn sie gefragt wurde. Ihr beredetet fast alles. Über die Familie, über die Vergangenheit. Ihr hattet so wahnsinnig viele Schnittpunkte, wie zwei Seelen. Es ist ein schönes Gefühl, einen Menschen zu finden, mit dem man teilen kann, der einem immer hilft, eine Stütze ist.
L. ist Ghostwriter. Du bist eine Autorin im Stadium der Schreibunfähigkeit. L. kam zu dir in einem Moment, der nicht hätte passender sein können. Während du nicht schreiben konntest, setzte sie sich für dich ein und schrieb. Nicht nur Emails. L. wusste einfach Bescheid. Sie hat viel von dir erfahren und konnte so reagieren, dass es authentisch wirkt. L. wurde dir immer ähnlicher. Wie fühlt sich sowas an, Delphine?
Du erlebtest mit L. eine wahnsinnig facettenreiche Zeit. Die Zeit tat weh, die Zeit tat gut und die Zeit veränderte durch und durch. Es war eine lange Zeit, die du mit L. verbrachtest. Du wolltest wieder schreiben und du vertrautest dich wieder L. an. Als du ihr allerdings sagtest, dass du kein Buch schreiben wirst, was auf der Wahrheit basiert, ist L. nicht sprachlos, sondern entsetzt. Sie schrieb dir: „…Kämpfe nicht den falschen Kampf, Delphine, mehr will ich ja gar nicht sagen. Die Leser wollen wissen, was man in sein Buch hineingibt, und sie haben recht. … Deine Bücher dürfen nie aufhören, deine Erinnerungen, deine Überzeugungen, dein Misstrauen, deine Angst, deine Beziehungen zu den Menschen ringsum zu befragen. Nur unter diesen einzigen Bedingung werden sie ins Schwarze treffen und ein Echo finden.“ (Seite 136/137) Und dann hast du geschrieben…
Wahrheit oder Fiktion?
Liebe Delphine de Vigan,
du hast mich mit deinem Werk aus einer kleinen Leseflaute befreit. Du konntest nicht schreiben, ich konnte nicht lesen. Vielleicht bin ich eine Art L. Du hast mich mit deinen Worten auf jeden Fall tief erreicht und regelrecht getrieben. Die Emotionen schwappten über und ich wusste stellenweise nicht mehr, ob ich weiter auf deine Seite bleiben sollte oder doch für gut befinde, was L. getrieben hat. Damit meine ich, dass du mir wahnsinnig leid getan hast. Gleich zu Beginn habe ich gemerkt, wie ich Hass gegenüber L. empfinde und wie er sich steigert. Hass kann kippen – das habe ich in deinem Buch gelernt. Hass kann umschlagen. Ich habe auch gemerkt, dass ich dich bemitleidet habe. Stellenweise haben mich die Worte, die du über L. geschrieben hast bedrückt und ihre Worte taten das gleiche.
Ich habe die Worte und ganz bestimmte Stellen mitgenommen, in mein Leben. Ich habe diese reflektiert und wie du richtig sagst: „…wobei das Buch den Leser fast immer – und aus einem Grund, den ich nicht erklären kann – auf seine eigene Geschichte zurückverwies. Das Buch war eine Art Spiegel…“ (Seite 14/15)
Meine eigene Geschichte habe ich mit zu dir und L. gebracht. Und nun? Hast du die Wahrheit gesagt oder hast du auf die Fiktion zurück gegriffen?
Für mich hast du mit diesem Roman tiefgründige Literatur auf den Buchmarkt gebracht, die besser kaum sein könnte. Dein Buch ragt nicht nur zwischen deinen eigenen Werken hervor, wie der Buskam in Nähe des Göhrener Strands. Du spielst nicht nur mit der Wahrheit und der Fiktion, du spielst mit dir und der Literatur und du vereinst in diesem Spiel allerhand Kunstgriffe. Sagenhaft!
Kunstgriff
Ich danke dir für dieses Buch. Du hast damit eine kleine Welle ausgelöst, denn ich habe anschließend herausfinden wollen, warum du die Drohbriefe bekommen hast. Warum gab es negative Stimmen zu deinem Buch über deine Mutter. Dabei fand ich heraus, dass ich in verkehrter Reihenfolge gelesen habe. Ich hätte so lesen sollen, wie du geschrieben hast. Dennoch ist es wahrlich nicht schlimm „Nach einer wahren Geschichte„ zuerst begonnen zu haben, aber es ist wahrlich schöner, zuerst in „Das Lächeln meiner Mutter„ zu tauchen. Umso intensiver wirkt dein neuster Roman. Als Autorin hast du kaum Gelegenheit deine Leser darin zu beeinflussen, zu welchem Buch sie zuerst greifen. Deswegen nehme ich mir hier die absolute Bloggerfreiheit und empfehle zuerst das Lächeln vor der wahren Geschichte.
Diese zwei Bücher gehören untrennbar zusammen und bilden eine Einheit die Leserherzen höher schlagen lässt.
Schreib, Delphine! Deine Leserin.*
[Delphine de Vigan] Sackgasse
Sackgasse.
Sackgassen können lang sein, können kurz sein, aber haben ein Ende.
Sackgassen können breit sein, können schmal sein, aber man kommt nicht aus ihnen heraus.
Mathilde hat eine Sackgasse betreten und jeder Tag macht ihre persönliche Sackgasse nicht weiter, sondern enger. Nicht länger, sondern kürzer, nicht offener, sondern beklemmender.
Mathilde Debord hat einen Job, den sich anderen nur wünschen können. Hand in Hand arbeitet sie mit ihrem Chef eng zusammen. Sie hat Ansehen, eine Stimme in der Firma, blindes Vertrauen unter den Kollegen. Den Rücken bekommt sie gestärkt, sie erhält Zuspruch und auch daheim schafft sie es alleine ihre drei Jungen erziehen und denen eine gute Mutter zu sein.
Doch dann betritt sie die Sackgasse, ein falsches Wort, ein falscher Schritt, eine falsche Aussage und das Gerüst, was so fest im Boden verankert ist, was kein Erdbeben erschüttern kann, beginnt ins Schwanken zu kommen. Grauer Nebel zieht auf und Mathildes Sicht wird getrübt, vor ihr beginnen sich im Boden Löcher aufzutun, Stacheln beginnen sie zu stechen. Der Ruhm, der Glanz, das perfekte liebenswerte Leben beginnt seinen Sinn zu verlieren.
Mobbing
Mobbing. Erst von einer Seite, dann von vielen Seiten. Eine Wahrsagerin prophezeit ihr eine besondere Begegnung, doch diese scheint nicht so mächtig zu sein wie die Sackgasse, in der sie sich befindet. Ein Blick zurück unmöglich, der Blick nach vorne ist nicht unendlich.
Es muss sich etwas ändern, der 20. Mai soll der Tag sein, an dem alles anders werden soll.
Sie hat geglaubt, sie könnte standhalten. Sie hat geglaubt, sie könne es meistern.
Sackgasse.
Selbst das bisher Erlebte beginnt in den Hintergrund zu rücken, die sonnigen Seiten der Vergangenheit, die Sackgasse wird übermächtig.
Delphine De Vigan drängt den Leser in eine Sackgasse. Packt dort kurz vor der Wand die Nadeln aus und sticht erst in den Arm, dann in die Beine. Die Nadel der Wörter fängt am ganzen Körpern an zu stechen, schonungslos, tief. Dann kommen die Schläge, die Wörterschläge im Gesicht, auf der Seele, am Kopf, alles wird getroffen und es schmerzt. Es schmerzt so sehr, ich schreie, schreie Mathilde an, doch sie hört mich nicht. Ich fange an zu verzweifeln, möchte keine Beleidigungen mehr, keine Erniedrigungen, keinen täglichen Spießrutenlauf. Frei sein, ich möchte frei sein, doch Delphine de Vigan fesselt, nimmt gefangen und schnürt mit dem dicksten Strick meinen Hals zu. Kraft schwindet, Tränen fließen und die Sackgasse bleibt eine Sackgasse.
Wie ist es dazu gekommen, wie hat es angefangen?
Eine Karte, die uns beschützt, die uns Kraft gibt, die uns aus dem trüben Wasser des Goldfischglases springen lässt, sollten wir alle haben. Ein Sprung in die frische bunte Welt, in der wir nicht alleine sind, in eine Welt ohne Sackgassen, sollte für alle möglich sein.
„Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin“ – aber ich hatte nicht vergessen, dass ich diese Wunden heilen kann.
Mehr Vigan gefällig? „No & ich„ kann ich genauso sehr empfehlen!
Nebenwirkungen des Lebens
„Ich dachte an die Nebenwirkungen des Lebens, die auf keinem Beipackzettel, in keiner Gebrauchsanweisung genannt werden“
Lou, ein 13-jähriges Mädchen. Etwas zu klein geraten aber dafür mit einem IQ von 160 ausgestattet, stellt sie sich immer wieder dem Leben. Auch nachdem ihre Schwester gestorben ist. Auch nachdem sich die Mutter abgeschottet hat. Sie ist sehr einsam, doch der Drang die Welt zu verändern, bleibt.
Viele verschiedene Experimente, wie zum Beispiel das Zeitmessen bis der Mundabdruck auf dem beschlagenen Spiegel verwindet oder ein Test wie widerstandsfähig ein Haargummi im Vergleich zu einem Schnippsgummi ist, gehörten bisher zu ihrem Hobby.
Lou
Für ein Referat in der Schule hat sie sich nun ein Thema über Obdachlose ausgesucht. Sie möchte eine Obdachlose interviewen und schon bald läuft ihr No über den Weg. No, ein Mädchen mit dreckigen Klamotten, abgekauten Fingernägeln, ohne Geld, ohne Familie, ohne alles und das mit gerade mal 18 Jahren.
Lou beginnt sich mit ihr regelmäßig zu treffen und spendiert ihr als Gegenleistung für das Interview immer einen Besuch im Cafe.
Eine Freundschaft beginnt und Lou schafft es ihre Eltern zu überzeugen, No bei sich aufzunehmen.
Nun ist Lou keine richtige Einzelgängerin mehr, doch auch jetzt ist nicht jeder Tag voller Sonnenschein. Um sich abzulenken wendet sie sich weiter ihren häuslichen Experimenten zu oder denkt an die erste Annäherung mit Lucas.
„…Beim Küssen gibt es keine vorgeschriebene Richtung, wir sind doch keine Waschmaschinen!“
No versucht nun den Weg aus ihrer Welt in die von Lou zu finden, doch als sie fast fest auf dem Boden steht, beginnt alles erneut ins Schwanken zu kommen. Geschworenes Vertrauen und Zusammenhalt werden auf die Probe gestellt.
„No & ich„ – ein fesselndes Buch was sehr tief berührt. Delphine de Vigan schaffe es, sich in eine von außen kindliche aber innerlich sehr reife Teenagerin zu versetzen. Sehr einfühlsam beschreibt sie die Gedankenwelten der beiden Protagonistinnen und trifft dabei den empfindlichsten Nerv des Lesers. Viele Textstellen müssen einfach mehrmals gelesen werden, weil sie so schön sind und wiederum auch so ergreifend.
Das Buch ist für mich und sicher für viele andere, die es gelesen haben, ein Highlight aus dem Jahr 2009 und sollte auf jede Bücherwunschliste aufgenommen werden.
Mehr Vigan gefällig? Kein Problem: „Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin„