„Gerade hatte die Tageszeit begonnen, die ich so liebte an den Sommer-monaten, diese Phase von vielleicht zwanzig Minuten, in der die herannahende Nacht mit immer neuen, hauchdünnen Schleiern aus Dunkelheit, die sie im Minutentakt über die Helligkeit legte, den Tag langsam herunterdimmte.“

Ein ungewöhnlich schöner Satz. Jedoch – ein eher untypisches Zitat aus einem Psychothriller.

Oder?

Uns ist diese Zeile tief im Gedächtnis geblieben – auch nachdem wir „Das Wesen“ von Arno Strobel gelesen haben, wird uns weiterhin sehr vieles aus dem Roman mit diesen Worten verbinden. Warum? Na ganz einfach, es waren die einzigen Zeilen im Buch, die uns eine Verschnaufpause eingeräumt haben, die uns einen Moment verweilen ließen, die uns eine Atempause verschafften und uns einen winzigen Augenblick der Ruhe gönnten. Deshalb sind sie uns so ans Herz gewachsen – diese Worte. Einfach so.

Wenn ein Buch das Prädikat NMADHL („Nicht Mehr Aus Der Hand Legbar“) verdient, dann ist es zweifellos „Das Wesen“ von Arno Strobel. Auf zwei Zeitebenen wird man von ihm auf einen rasenden Zug gesetzt, verfolgt aus Sicht der Akteure die Wiederkehr eines wahren Alptraums und hastet atemlos durch die Zeit. Spuren suchend, Hinweise sammelnd und atemlos gehetzt von der gnadenlosen Dynamik der Geschichte.

1994 gelingt es dem Aachener Kripobeamten Bernd Menkhoff und seinem neuen Partner Alex Seifert den Entführer und Mörder eines kleinen Mädchens nach aufreibender Fahndung und lückenlosem Indizienprozess für fast 15 Jahre hinter Gitter zu bringen. So brutal der Mord war, so intelligent hatte der Psychiater Dr. Joachim Lichner sein perfides Spiel mit allen Beteiligten gespielt. Ohne die Mithilfe seiner Lebensgefährtin hätte man ihn niemals überführen können. Ein Geständnis jedoch hatte er nie abgelegt – zu Unrecht hinter Gittern, in der Opferrolle, so sah er sich viele Jahre lang. Und schuld daran sollte allein Bernd Menkhoff sein, dem er stets vorwarf, persönlich motiviert Indizien manipuliert zu haben.

Als im Jahr 2009 wieder ein Mädchen in Aachen als vermisst gemeldet wird, gehen die gleichen Beamten von einst den neuen Hinweisen nach und nehmen die Ermittlungen auf. Menkhoff und Seifert – durch die gemeinsamen Jahre eingeschworene und gereifte Partner – fühlen sich plötzlich von ihrer eigenen Vergangenheit eingeholt als diese Informationen sie an die Tür einer Wohnung führen, deren Besitzer ihnen nur allzu bekannt ist. Dr. Lichner, inzwischen auf freiem Fuß, soll der Vater des Mädchens sein, das fieberhaft gesucht wird.

Nur – er behauptet Stein und Bein, überhaupt keine Tochter zu haben und sieht sich wieder einmal einer polizeilichen Verschwörung ausgesetzt. Das Spiel beginnt erneut. Nur die Vorzeichen haben sich geändert – und Seiferts längst vergrabene Zweifel am damaligen „Fahndungserfolg“ bahnen sich unaufhaltsam ihren Weg. Und dann taucht unversehens Lichners damalige Freundin wieder auf.

Was durch die Zeit getrennt wurde, vereinigt Arno Strobel durch die Seiten seines Romans. Durch die geniale Konstruktion des Thrillers gelingt es ihm, die Handlungsfäden so miteinander zu verweben, dass ein zeitloses Muster des Mordens entsteht. Wenige Personen sind an diesem Webstück beteiligt und jeder einzelne von ihnen gerät in den Verdacht den roten Faden in der Hand zu halten.

Die Lösung? Sie liegt im Wesen des Menschen verborgen. Dieses Wesen zu erkennen ist die schwierige Aufgabe, vor die uns Arno Strobel stellt. Sie ist nicht unlösbar, denn diesem Autor kann man seine schlaflosen Stunden ganz bewusst anvertrauen. Auf den letzten Seiten des „Wesens“ geht seine Komposition in aller Perfektion auf, das Muster wird transparent und enthüllt alles, was zuvor im Verborgenen schien.

Atemlos entlässt uns das „Wesen“ in die ach so heile Welt. Es ist schön, sich ein paar Minuten hinzusetzen, ein- und auszuatmen, runterzukommen, Tempo rauszunehmen und über das Gelesene nachzudenken. Doch wenn das erste Sauerstoffpartikelchen die Alveolen zu füllen beginnt, kehrt die Sucht zurück – die Sucht nach MEHR von Arno Strobel.

NMADHL

PS: Diese Rezension entstand nach langen Team-Gesprächen zwischen den „Literatwos“, Binea und Mr.Rail, und ist somit Ergebnis gemeinsamen Lesens, Leidens und Staunens.

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