Mein Ein und Alles ~ Gabriel Tallent

Wenn du kurz überlegst, fällt dir bestimmt ein, wann du das letzte Mal zu jemanden „Mein Ein und Alles“ gesagt hast. Richtig? Diese wenigen Worte klingen nicht tief und bedeuten doch so viel. Du bist mein Ein und Alles – diese Worte hört die 14-jährige Julia Alveston, Turtle genannt, sehr oft von ihrem Vater. Ihr Vater liebt sie, seine Tochter, die er nach dem Tod der Mutter ganz alleine aufzieht. Ja, es gibt noch den Großvater, der mit auf dem Anwesen lebt, welches immer mehr verwildert. Er trinkt gern, ist aber ein herzensguter Mensch, der seine Enkelin ebenfalls liebt, allerdings so wie man seine Enkelin lieben sollte. Ihr Vater liebt Turtle nicht nur wie seine Tochter, er liebt sie auch wie er seine Frau geliebt hat. Mit diesen Worten möchte ich ausdrücken, was dich grob erwartet und spreche eine Triggerwarnung aus.

„Ich liebe ihn, ich liebe ihn so gottverdammt heftig, aber…Das hier ist ein Spiel, das wir spielen, und ich glaube, er weiß, dass wir es spielen; ich hasse ihn für etwas, für etwas, das er tut, er geht zu weit, und ich hasse ihn, aber ich bin unsicher in meinem Hass, meine Schuldgefühle, meine Selbstzweifel, mein Selbsthass sind zu groß, um es ihm übel zu nehmen; das bin ich, eine gottverdammte Schlampe; deshalb mache ich mich wieder schuldig, nur um zu sehen, ob er wieder etwas so Schlimmes macht; damit ich sehe, ob es richtig ist, ihn zu hassen; ich will es wissen…“ (Seite 99)

Mein Ein und Alles

Autor Gabriel Tallent entführt uns regelrecht in die Wildnis. Martin, Turtles Vater, ist ein ansehnlicher Mann, in seinem Inneren allerdings einsam. Außerdem sieht er sich ständig drohenden Gefahren ausgesetzt. Gefahren die nicht existieren, dennoch ist das Haus voller Waffen. Seine Tochter erzieht er wie einen Mann. Sie kann perfekt mit verschiedenen Waffen umgehen, sie ist geschickt in Sachen Verteidigung und sie übt täglich das Schießen. Rohe Eier am Morgen gehören zum Start in den Tag und Turtle hat wenig Freunde, aber ihre Mitschüler haben Respekt vor ihr. Sie hat eine derbe Umgangssprache, in ihrem Kopf toben Ausdrücke wie Schlampe, Nutte, Luder und Miststück. Weiblichkeit strahlt einzig ihr Körper aus, ansonsten spiegelt ihr Verhalten den Männerhaushalt wieder. Martin liebt seine Tochter, doch Martin kann genauso brutal sein. Als Turtle Jacob trifft, sieht Martin rot und Turtle selbst einen Abzweig in ihrer Lebenssackgasse…

Ach meine kleine Turtle, was habe ich mit dir gelitten. Was habe ich mich mit dir gefreut und was habe ich alles von dir gelernt.

Mein Ein und Alles ~ Gabriel Tallent

„Mein Ein und Alles“ ist inhaltlich brutal, aber ebenso wahnsinnig vielseitig. Wir werden tief in die Natur geführt. Protagonistin Turtle gibt sehr filigran wieder, wie die kalifornischen Wälder aussehen. Sobald sie in grüner Umgebung ist, sind ihre Sorgen vergessen. Sie streift gern durch die Einsamkeit und keiner ihrer Schritte ist langweilig. In der Natur ist sie frei und genau dort trifft sie auf zwei Jungs denen sie helfen kann. Im Haus zurück, werden alle Erlebnisse weggewischt und ein Geschenk von ihrem Opa wird ihr zum Verhängnis. Seiten später erleiden wir lesend Schmerzen, die vorher friedliche Waldluft ist nun aggressiv und abgestanden.

Gabriel Tallent ist ein Künstler. Er lässt den Roman wie einen Film erscheinen. Vor unseren Augen entstehen so intensive Bilder, dass wir das Gefühl haben, die gleiche Luft wie Turtle zu atmen. Ich hätte regelrecht Angst, das Buch aus der Hand zu legen. So nah, so eng, habe ich mich selten mit einem Charakter verbunden gefühlt. Knappe 500 Seiten lang habe ich nicht loslassen können, selbst wenn ich von den gelesenen Worten gekrümmt auf dem Fußboden lag. Turtle ist so einzigartig, so speziell, so verdammt tapfer und lebenswillig und stark. Ihr Leben ist nichts für schwache Nerven und leider auch so brutal real, dass mein Gesicht nass wurde. Ein sagenhaft vielseitiger Roman über eine unerschütterliche Heldin die mit viel Lebenswillen und seelischer Zerrissenheit zwischen Gut und Böse balanciert..

Liebe = gut & böse

Ein wenig Kritik muss ich dennoch üben. Am Ende fühlte ich mich wie in einem Krimi, es wurde megamäßig spannend, der Show-down war sehr heftig und vielleicht etwas zu übertrieben, ABER: der Roman spielt in Amerika und da ist bekanntlich alles möglich und schon nehme ich die Kritik auch wieder zurück. Letztendlich passen alle Verhaltensweisen der Charaktere zusammen, wir bangen, wir fiebern mit und es passiert so unglaublich viel. Gabriel Tallent hat mich echt gepackt und auch verstört. Ich wusste auf welchen Buchstoff ich mich einlasse und doch gab es Stellen, die mich tatsächlich richtig erzittern lassen haben.

Ich muss dir ehrlich gestehen, dass ich nicht weiß, wem genau ich den Roman ans Herz legen kann. Eher sollte ich dir Turtle, dieses wundervolle Mädchen, die Heldin, diese starke mutige Person ans Herz legen. Sie hat mich wahnsinnig beeindruckt, ich wünschte, ich hätte sie in den Arm nehmen und unterstützen, ja, eher retten können. Gleichzeitig bin ich verdammt dankbar, dass ich keine ihrer schlimmen Situationen, ihrer schrägen Lebenslagen erleben musste.

Vielleicht hilft es aber, wenn ich erzähle, dass ich während des Lesens an June aus „Sag den Wölfen, ich bin zu Hause“ denken musste, noch viel mehr aber an Mary aus „Die Farbe von Milch„, denn mit ihr hat Turtle Alveston viel gemeinsam. Leider! Turtles Lehrerin Anna könnte sich gut mit Théos Lehrerin Hélène aus „Loyalitäten“ austauschen. „Mein Ein und Alles“ bestätigt: Bücher verbinden…

Eure
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