Am 21. April 1910 starb in Redding, Connecticut, ein gewisser Samuel Langhorne Clemens im Alter von 74 Jahren. Wie sehr diese Nachricht nicht nur den USA eingeschlagen hat, lässt sich nur ermessen, wenn wir uns vor Augen führen, dass dieser Mann unter dem Pseudonym Mark Twain durch seinem Roman „Die Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn“ zu weltweitem Ruhm gelangt war.
Sein Lebenswerk ist zeitlos geblieben, die romantische Briefsammlung „Sommerwogen“ hat Literatwo mehr als bewegt, zeigt sie doch die Seite eines Mannes, der von sich gerne behauptete: „Jungs wie mich gibt es nicht alle Tage!“ Und eigentlich dürfte man meinen, dass es heute nichts Neues mehr aus seinem bewegten Leben zu berichten geben dürfte. Weit gefehlt.
Nun sitzen wir, kaum sind einhundert Jahre vergangen, vor der sogenannten „Geheimen Autobiographie“ des großen Schriftstellers. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung des monumentalen Werks ist nicht von Verlagen erdacht, sondern wurde von Mark Twain selbst verfügt. Warum? Ganz einfach, eigentlich:
„In dieser Autobiographie werde ich stets im Hinterkopf behalten, dass ich aus dem Grab spreche. Ich spreche buchstäblich aus dem Grab, denn wenn das Buch aus der Druckerpresse kommt, werde ich tot sein… Aus gutem Grund spreche ich aus dem Grab statt mit lebendiger Zunge: So kann ich frei reden.“
Genau 100 Jahre sollten vergehen, bis die Welt endlich die gesamten Lebenserinnerungen Twains in Händen halten konnte und allein dies zeigt die absolute Weitsichtigkeit und das große Selbstbewusstsein des Schriftstellers, muss er doch zumindest ein wenig geahnt haben, dass sich im Jahre 2012 noch irgendjemand für seine Memoiren interessiert. Wir interessieren uns, blättern vorsichtig in der wertvollen Schuber-Doppelausgabe (immerhin nur Teil 1 von insgesamt 3) und staunen nicht schlecht, wie schnell man in die Welt des Mark Twain einzutauchen vermag!
Gerne folgten wir auch der Einladung des Aufbau Verlages zu einer atmosphärischen Lesung anlässlich der Frankfurter Buchmesse 2012 und konnten es kaum erwarten zu erleben, wie Harry Rowohlt mit Grabesstimme einen längst verstorbenen großen Literaten wiederbeleben wollte. Bereits die ersten Sätze Rowohlts lassen keinen Zweifel aufkommen, dass nur er – ausschließlich er – in der Lage ist, diese Rolle zu übernehmen.
Im kongenialen Zwiegespräch mit dem Übersetzer des Werks Hans-Christian Oeser wurde diese Veranstaltung im Lesezelt der Buchmesse zu einem wahren Event. In einem ständigen Wechsel aus vordergründig hintergründigen Lebensanekdoten Twains konnten die Zuhörer nun selbst erleben, wie Harry Rowohlt das gesamte Publikum in twain´sche Stimmung versetzte. Er las sorgsam ausgewählte Passagen, die uns träumen, lachen und leiden ließen. Und alles mit dem sonoren Timbre in der Stimme, für das Rowohlt so bekannt ist. Es war, als säße Mark Twain mitten unter uns. Magisch.
Twains Haltung zu seinen eigenen Lesungen ließ die ersten Wogen heiterer Ausgelassenheit durch das Zelt toben:
„Um halb sechs war ein Drittel der Leute eingeschlafen; ein zweites Drittel lag im Sterben; der Rest war tot. Ich nahm den Hinterausgang und ging nach Hause.“ (S. 321)
Endlos erscheinende Aufzählungen seiner Lieblingsspeisen im Kindesalter brachten uns alle zurück in die Kleinstadt Hannibal in Missouri. Rowohlt las und allen Zuhörern floss das Wasser im Munde zusammen:
„Im Sommer wurde der Tisch mitten in diesem schattigen und luftigen Gang gedeckt, und die üppigen Mahlzeiten – ach, ich muss weinen, wenn ich nur daran denke. Gebratenes Hähnchen; Schweinebraten; wilde und zahme Truthähne, Enten und Gänse; frisch erlegtes Wild; Eichhörnchen, Kaninchen, Fasane, Rebhühner, Präriehühner; selbstgeräucherter Speck und Schinken; heiße Kekse, heiße Rührkuchen, heiße Buchweizenkuchen, heißes Weizenbrot, heiße Brötchen, heißes Maisbrot; frisch gekochte Maiskolben, Bohnen-Mais-Eintopf, Limabohnen, Stangenbohnen, Tomaten, Erbsen, irische Kartoffeln, Süßkartoffeln; Buttermilch, frische Milch, Sauermilch; Wassermelonen, Zuckermelonen, Cantaloupe-Melonen, Apfelkuchen, Pfirsichkuchen, Kürbiskuchen, Apfelknödel, Pfirsichauflauf – an den Rest kann ich mich nicht mehr erinnern.“ (S. 16)
Als Harry Rowohlt dann bei der Stelle mit den Eichhörnchen unterbrach um einfließen zu lassen, dass auch die Familie von Elvis Presley die kleinen Tierchen als Delikatesse betrachtete und hinzufügte: „Das ist so ein Spezialwissen, das ich sonst nirgendwo anbringen kann…“, wusste man, wie Lesungen auch sein können: Herrlich und göttlich!
Aber auch dem „anderen“ Mark Twain konnte Harry Rowohlt im Lesezelt Raum verschaffen. Dem aggressiven, impulsiven und aufbrausenden Mark Twain, den schon belanglose Kleinigkeiten an den Rand des persönlichen Vulkanausbruches brachten:
„Im Nu nahm meine Gereiztheit um mehrere Grade zu, und meine Äußerungen nahmen ebenfalls zu, an Lautstärke wie an Ausdruckskraft. Aber ich machte mir keine Sorgen, denn die Badezimmertür war massiv, und ich nahm an, dass sie fest geschlossen war. Ich stieß das Fenster auf und warf das Hemd hinaus. Es landete im Gebüsch, wo die Leute es auf dem Weg zur Kirche bewundern konnten, wenn ihnen danach war; Hemd und Passanten trennte nur ein fünfzehn Meter breiter Rasenstreifen.“ (S. 258)
Am Ende der Lesung kannte die Begeisterung kaum eine Grenze und wir beschlossen gemeinsam, uns von diesem mehr als umfangreichen Buch durch den Leseherbst in den hoffentlich stimmungsvollen Winter begleiten zu lassen. Wir werden immer mal wieder von unseren Lesegefühlen schreiben, ab und an einen gediegenen Schluck Mark Twain Bourbon zu uns nehmen und unsere Notizen mit einzigartig literatwoischen (weil zwei) Twain-Stiften dokumentieren.
Wenn ihr selbst mal die Grabesstimme hören möchtet, dann einfach HIER anklicken, zurücklehnen und genießen!
Bleibt uns auf der Spur. Es wird sehr interessant und unterhaltsam. Wir berichten auf unserer Facebook-Seite und natürlich hier und können schon eines versprechen. „Mark Twain – Meine geheime Autobiographie„ wird in diesem Jahr unter dem festlichen Weihnachtsbaum eines unserer Leser liegen. VERSPROCHEN!
Ich danke Bianca für den Stift und den bewegenden Text zu folgendem Foto auf Facebook. Das hat sehr tief gesessen!